Adrem-Online-Casting. Foto: Robert Skrobich

Heike Marx, Die Rheinpfalz, 25. Januar 2021

Das Ludwigshafener Adrem-Jugendtheater hat zum ersten Mal ein Online-Casting für seine geplante Produktion „Ernstfall“ veranstaltet. Ebenfalls zum ersten Mal in seiner mehr als zehnjährigen Geschichte wird es Erwachsene einbinden. Not macht erfinderisch, führt auch manchmal zu Entdeckungen. Die Not heißt Corona und ist Erfahrungshintergrund des Theaterstücks, das gemeinsam erarbeitet werden soll.

Am ersten Casting-Nachmittag sind die Jugendlichen an der Reihe, Mädchen zwischen zwölf und 18 Jahren aus zwei Adrem-Kursen, die nur noch online laufen. Jedes hat von Theaterleiterin Gabriele Twardawa einen Text bekommen, das es vortragen wird.

Mia spricht von einer diffusen Angst, die frösteln macht. Dann legt sie los als aufsässige
14-Jährige: Wie peinlich es ihr sei, dieses und jenes und überhaupt alles. Bei Mia daheim in Worms ist die Angst Dauergast. Der Vater arbeitet im Bereich der Altenpflege. Hat er sich infiziert? Wird er die Familie anstecken? Mia selbst war längere Zeit positiv getestet.“

Dana hat zwei kurze Performances vorbereitet. Sie verschwindet vom Bildschirm und ist, husch, wieder da – im Kostüm und geschminkt. Sie tritt ganz nahe heran und kotzt ihre Wut mit Migrantenakzent heraus. Dann ist sie, husch, wieder weg und zurück als grazile Balletteuse, um sich auszuflennen.

Nur Klara macht es anders

Die anderen haben alle denselben Text, eine von Gabriele Twardawa aktualisierte Passage aus einem älteren Jugendstück. Es ist eine Standpauke an die Adresse der Eltern, eine Kaskade von Warum-Sätzen voll aggressiver Anklage: „warum erzählt ihr uns immer wieder…“ Sie laden zum Lospowern ein. Und so haben die Mädchen sie auch interpretiert. Nur Klara macht es anders: intim, nachdenklich, fast melancholisch. Hoppla, das hat etwas.

Twardawa ist überrascht – und freut sich: „Mit Gegensätzen arbeite ich besonders gern. Deshalb habe ich den Mädchen gesagt: Tauscht euch nicht aus. Erarbeitet den Text allein.“ Es kommt ihr auf individuelle und authentische Interpretation an. Sie wird mehrmals betonen: „Die Inhalte unseres Stücks schreibt das Leben, also ihr. Eure Geschichten treffen aufeinander in unserem ganz großen Drehbuch.“ Auf eine Frage nach Ablehnungen wird sie antworten: „Ich lehne niemanden ab. Ich nutze Potenziale. Jeder ist auf irgendeinem Weg und bringt etwas.“

Nur vier Erwachsene sprechen vor

Für die Einzelgespräche mit den Erwachsenen nimmt sich die Theaterleiterin mehr Zeit. Es sind nur vier: drei Frauen und ein Mann. Twardawa kennt sie bisher nur aus einem einzigen Telefongespräch. Online begegnet sie nun markanten Persönlichkeiten, die neben Lebenserfahrung auch Bühnenerfahrung einbringen. Letztere ist inspirierend, aber nicht Voraussetzung für das geplante Stück. Ihre Vision ist, dass es die Vielfalt der Gesellschaft widerspiegelt: Während die Senioren schon ganz gut vertreten sind, ist aus der Altersgruppe 30 bis 50 Jahre erst eine einzige gecastet: die so leidenschaftliche wie sarkastische Powerfrau Carmen.

Wie sie die Passage mit dem roten Kleid in Szene setzt! Sie trägt ein braves schwarzes, wie es im Text steht. Sie hat es sich nicht ausgesucht, nörgelt sie. Sie will ein rotes! Sie reißt ihr Kleid auf und ein rotes Shirt kommt zum Vorschein. Carmen hat sich mit einem selbstgeschriebenen Corona-Text beworben. Er ist so nachdenklich sarkastisch und sprachlich pointiert, dass Gabriele Twardawa Teile daraus verwenden will.

Mia freut sich auf „etwas Neues“

Karolina bringt das rote Kleid jugendlich aufmüpfig. Sie ist seit vier Jahren beim Adrem und in dieser Zeit aus einem „stillen, schüchternen Mädchen, das sich nichts traut“, sagt sie, zu einer selbstbewussten jungen Frau geworden.

Mia, nicht die vom ersten Casting-Tag, war in Gabriele Twardawas Kinderkurs im Theater im Pfalzbau. Sie sei ziemlich lang beim Pfalzbau gewesen, sagt sie und freut sich auf „etwas Neues“. Twardawa freut sich auf die Wiederbegegnung mit der jetzt 17-Jährigen. Sie bringt eine neue Variante des Standpaukentextes mit ironischem Höhepunkt. Für das Video, das über das Casting gedreht wird, muss sie ihn wiederholen und dabei näher an die Kamera herantreten.

Erwachsene, bitte melden!

Arya kann perfekt mit Kamera und Mikrofon. Er legt einen schnöseligen Jung-Boss hin, dass es kracht. Arya war einer von zwei Ajaxen in Tilman Gerschs Inszenierung im Theater im Pfalzbau, später war er Amokläufer in Gabriele Twardawas preisgekrönter Produktion. Damals noch mit Sprachschwierigkeiten, jetzt Schauspielschüler in Berlin. Er wirkt als Gast mit.

Im Februar sind weitere Castings vorgesehen. Erwachsene, bitte melden! So gut das Casting gelaufen ist, ein Stück online produzieren kann man nicht, sagt Gabriele Twardawa: „Wenn die Theater wieder öffnen dürfen, beginnen wir mit Workshops, in denen sich alle kennenlernen. Im Dezember möchte ich mit der Premiere auf die Bühne kommen.“

Im Netz

Das Video über das Casting wird das Adrem-Jugendtheater auf seine IT-Seite stellen: www.adrem.jugendtheater.de. Anmeldung zum Casting für alle Interessierten: KONTAKT 

Heike Marx, Die Rheinpfalz, 25. Januar 2021

Mit freundlicher Genehmigung

Written by ADREM
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